Thomas Leon Heck

Ein furchtbarer oder ein fruchtbarer Irrtum? Meine beste Geschichte

Mediziner stehen an erster Stelle der Volksachtung. In meinem Laden interessierte sich ein Mediziner für Graphik moderner Klassiker. Er sah sich einen signierten Liebermann an und bat um Bedenkzeit. Wenige Tage später erschien er wieder, nahm aber vom Kauf des Liebermann-Blattes Abstand. Ich spürte sein ernsthaftes Interesse, so dass mir nichts auffiel, als er anschließend intensiv meinen Graphikständer durchblätterte. In einem der zahlreichen Überwachungsspiegel meines Ladens sah ich, wie er einmal eine Graphik von Beckmann in der Hand hielt, ein anderes Mal eine Originalradierung von Goya. Nachdem er gegangen war, passierte ein unglaublicher Zufall: Kaum drei Minuten später fragte ein junger Mann nach eben jener Beckmann-Graphik, die der Mediziner gerade noch in den Händen gehabt hatte. Ich begann, das Blatt zu suchen. Als ich es nicht gleich fand, sagte ich noch halb scherzend zu dem neueingetretenen Kunden: "Das wird doch der Mann, der da gerade gegangen ist, nicht geklaut haben ...". Doch bei der weiteren Suche fand ich das Blatt tatsächlich nicht, dafür aber zwei leere Passepartouts, die den Goya sowie einen Kandinsky im Wert von 1500 DM enthalten hatten. Da ich während der Anwesenheit des Verdächtigen auch das Goya-Blatt in seiner Hand durch den Spiegel, wie gesagt, noch gesehen hatte, war der Zusammenhang eindeutig. Ich alarmierte sofort die Polizei. Aber außer der umständlichen Aufnahme eines Protokolls geschah an diesem Abend nichts mehr von dieser offiziellen Seite. Ich war mir aber fast sicher, dass es sich bei dem Täter um einen Kunden handelte, der vor fünf Jahren auf einer meiner Versteigerungen wie folgt negativ aufgefallen war:
Bei der Auflösung einer Arztpraxis ersteigerte er den kompletten Inhalt mehrerer Schränke für 45 DM. Anstatt aber alles Erworbene mitzunehmen, wie es sich gehört, suchte er sich nur die besten Sachen heraus und ließ mir zentnerweise Abfall zurück, den ich im Schweiße meines Angesichts in Müllsäcke packen und entsorgen musste. Als ich ihm hierfür die Entrümpelungskosten in bescheidenem Maß in Rechnung stellte, sah er sich nicht etwa veranlasst, diese berechtigte Forderung zu begleichen. Vielmehr schaltete er postwendend seinen Anwalt ein, der mir die Ablehnung meiner Ansprüche erklärte. Das ausgeprägte Rechtsempfinden des Herrn sollte sich allerdings nun, Jahre später, als sehr einseitig erweisen, denn bei der Wahrung der Rechte anderer ist er keinesfalls zimperlich, sondern beweist im Gegenteil eine hohe kriminelle Energie.

Ich erkannte ihn also noch nach fünf Jahren, obwohl ich in dieser Zeit etwa 50 000 Gesichter gesehen hatte, und das trotz seines inzwischen gewachsenen Vollbarts. Ich musste lediglich das Protokoll dieser lange zurückliegenden Auktion heraussuchen und fand den Namen des Täters. Ich ermittelte dann, dass er sich an diesem Abend bei seiner - ebenfalls wegen Diebstahls schon verurteilten - Schwiegermutter aufhielt. Ich rief bei der zuständigen Polizei an. Da saß ausgerechnet einer meiner Kunden am Notruftelefon, der meine Aussagen als zuverlässig einschätzte. Dieser kleine taktische vorteilhafte Zufall führte noch am selben Abend zu einer Haussuchung, wobei ich den Goya und den Kandinsky in einem Buch wiederfand, das mir der Täter beim selben Besuch abgekauft hatte, wohl nur deshalb, um die gestohlene Graphik darin verstecken zu können.
Der Mediziner selbst saß zu diser Zeit, während der Haussuchung, in einer Pizzeria am Kopfende eines Tisches, wo er vor sechs Bekannten große Reden schwang. Unterbrochen wurde er bald von mir und uniformierten Beamten, die ihn direkt zum Verhör abholten. Seine hochschwangere Frau bekam dabei einen Schreikrampf. (Sein erster Säugling hatte friedlich zu Hause bei der diebischen Oma geschlafen, wo er nicht umhin konnte, von mir bei meiner Suche nach dem Versteck des Diebesguts umgewendet zu werden. Das Kind tat mir leid, nicht wegen meiner Maßnahmen, sondern wegen solcher Eltern.)

Wie die Sache ausging? Das Beckmann-Blatt, das ich ursprünglich vermisst hatte, fand sich am nächsten Tag im Graphikständer wieder. Es war nur hinter eine andere Graphik gefallen ... Ein fruchtbarer Irrtum also für mich.
Und im August 1992 fand der Strafprozess vor dem Amtsgericht Tübingen statt. Trotz der erdrückenden Beweislast leugnete der Arzt in spe (Heute ist er ausgerechnet Psychiater.) noch vor Gericht: Jemand müsse ihm die Sachen in die Tasche geschmuggelt haben! Meine Aussage war aber so glaubhaft, dass selbst der Anwalt des Angeklagten zugeben musste, dass man eigentlich nicht anders könne, als einen Diebstahl seines Mandanten anzunehmen. Seine Bitte an das Gericht, die standes- bzw. disziplinarrechtlichen Konsequenzen, die dem Täter als angehendem Arzt drohen, zu berücksichtigen, fand kein Gehör. Im Gegenteil, der Richter verdoppelte von sich aus das von der Staatsanwaltschaft geforderte Strafmaß von 30 auf 60 Tagessätze, mit der Begründung, hier handle es sich nicht um einen gewöhnlichen Diebstahl! Dem Verteidiger, einem ganz guten Kunden von mir, war die Sache so peinlich, dass er über zwei Jahre nicht mehr in meinen Laden kam. später aber mein Anwalt wurde.
Ich selbst spielte dann noch fieserweise die Akte der Approbationsbehörde zu, denn in Zeiten von Medizinerschwemme sehe ich nicht ein, dass solche raffgierigen Individuen unter dem Mäntelchen des Hippokratischen Eides auf Kranke losgelassen werden. Damit war meinem Gerächtigkeitsgefühl nun endgültig Genüge getan. Das also war - ein fruchtbarer Irrtum für den Täter.
Der junge Mann, der die Sache durch seine Frage ins Rollen gebracht hatte, konnte seinen Beckmann nun erwerben. Er war eigentlich nur im Auftrag seiner Schwester gekommen, die sich in das Blatt verliebt hatte. (Sie konnte ihrem Bruder kein Wort glauben, als er ihr diese Geschichte erzählte. Sie meinte, er plane nur eine besonders geschickt eingefädelte Weihnachtsüberraschung!) Hätte er sich drei Minuten früher blicken lassen, wäre der Mediziner noch da gewesen und hätte sich bei einem von mir geäußerten Verdacht ganz schön reinwaschen können (denn er dürfte den verlangten und eben nicht geklauten Beckmann ja recht schnell gefunden haben). Wäre der Beckmann-Kunde aber einen Tag später gekommen, hätte ich mich vielleicht gar nicht mehr an den Mediziner erinnert. So aber kam er innerhalb von 180 Sekunden, die das Leben eines Menschen veränderten. Die Ironie der Geschichte: Die geklaute Goya-Radierung zeigt einen eingekerkerten und angeketteten Strafgefangenen, und darunter steht "Die Strafe ist so grausam wie die Tat". Wie wahr! Ich habe übrigens diese Radierung als Titelbild eines von mir 1995 verlegten Buches über Anarchisten verwendet, in dem es auch wieder über Eigentum, Staat, Strafen und Spielregeln geht. Ich glaube, dass das Paradoxe dieses Erlebnisses gar nicht erfunden sein könnte, denn es müsste unglaubhaft wirken. Übrigens lese und sehe ich selbst keine Krimis, die mir viel zu langweilig sind gemessen an der Wirklichkeit.

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